Die letzte Meile ist ein teures und komplexes Unterfangen für die Logistiker. Gerade in den hochverdichteten urbanen Räumen sind neue Ansätze nötig, um nachhaltige Lieferkonzepte zu entwickeln. Wolfgang Lehmacher war viele Jahre im Ausland bei unterschiedlichen Logistikern tätig, heute ist er Director Supply Chain and Transport Industries beim Weltwirtschaftsforum. Ihn fasziniert die Transformation der Logistikbranche – der kontinuierliche Wandel der Rollen, die rund um die Supply Chains entstanden sind.

Herr Lehmacher, leben wir in einigen Jahren im Dauerstau? Wie wirken sich Urbanisierung und städtische Verdichtung auf die Logistik aus?

Wolfgang Lehmacher: In vielen Ballungszentren leben wir schon heute im Dauerstau, auch in Deutschland. In München, der Stadt mit dem höchsten Verkehrsaufkommen in Deutschland, verbringen Autofahrer 49 Stunden im Jahr im Stau. Die Kosten für die Städte sind enorm und werden steigen: Allein in Berlin verursacht der Stau 4,3 Milliarden Euro direkte und indirekte Kosten. Für die Logistiker wird das nicht einfacher, denn der politische Druck der Bürger steigt. Der Wunsch nach guter Luft, weniger Lärm und Emissionen, mehr Sicherheit – all das führt zu Einschränkungen im Lieferverkehr.

Was bedeutet das für Lieferdienste und Logistiker?

Das beeinflusst Industrie und Handel, die auf schnelle Lieferkonzepte angewiesen sind.
Aber die Logistiker suchen nach neuen Möglichkeiten: Der Einsatz von Elektrofahrzeugen ist ein Beispiel, ebenso die Nutzung von Lastenrädern und Drohnen. Was jedoch fehlt, sind Gesamtkonzepte und die enge Zusammenarbeit zwischen Logistikern, örtlichen Behörden und der Industrie, inklusive der Fahrzeughersteller. Dabei gibt es viele Ansätze, zum Beispiel die räumliche Verlagerung in Rohranlagen, Tunnelsysteme oder auf U-Bahngleise. Denkbar ist auch die zeitliche Verlagerung von Lieferverkehren in die Nacht oder der Einsatz technologischer Neuerungen. Generell gilt: Wir müssen die vorhandene Infrastruktur besser und effizienter nutzen – und wir müssen in den hochverdichteten Stadträumen Flächen für die Logistik zur Verfügung stellen.
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Was muss geschehen, um dauerhafte Lösungen für die Regionen zu finden?

Wir müssen auf kommunaler Seite die Priorität ändern: Wir brauchen Bürgermeister mit Vision, Durchsetzungskraft und Stehvermögen. Und wir müssen erklären, dass Mobilität ihren Preis hat. Umweltzonen, grüne Feinstaub- und blaue Umweltplaketten sind erste Schritte in die richtige Richtung. Politiker müssen zudem Anreize setzen, damit wir das Ziel nachhaltiger Transporte erreichen. Die Wirtschaft wiederum spielt eine große Rolle, weil sie die Lösungen einbringen muss, die wirtschaftlich sinnvoll sind.

Gibt es eine Stadt oder eine Region, in der Sie Ansätze für eine solche enge Zusammenarbeit sehen?

In Deutschland habe ich eine solche Kooperation noch nicht erlebt. Mein Paradebeispiel ist Singapur, weil die Stadt immer schon ganzheitlich gedacht hat und offen mit der Situation der hohen Verdichtung in einem beschränkten Raum umgeht. Ein anderes Beispiel ist Boston in den USA – die ganze Stadt ist sehr innovativ. Dort erkennt man die Probleme mit komplexen Warenströmen, während in Deutschland beim Thema Mobilität viel zu oft nur über die relativ einfache Personenbeförderung diskutiert wird. Aber es gibt auch in Europa gute Ansätze: Göteborg als Electric City, Hamburg mit der Hafencity – das sind interessante Entwicklungen, bei denen sich zeigt, wie fortschrittlich Politik sein kann, wenn alle Stakeholder zusammenarbeiten. Denn eines ist klar: In unserer demokratischen Welt kann eine fehlende Stimme das Scheitern des Gesamtprojektes bedeuten.

Welches Model halten Sie persönlich am aussichtsreichsten?

Es gibt viele unterschiedliche Ansätze für ganz verschiedene Situationen. Was mich aber wundert: 1975 hat Singapur als erste Stadt der Welt die Citymaut eingeführt. Damals war das Ziel, einen reibungslosen Verkehrsfluss bei 20 bis 30 Stundenkilometern sicherzustellen. Singapur hat heute ein System mit unterschiedlichen Geschwindigkeitskorridoren und zeitlich angepassten Tarife. Warum wird diese relative einfache Citymaut nicht in Deutschland diskutiert?

Und woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ein Grund ist sicher: Im Vergleich mit anderen europäischen Staaten hat Deutschland immer noch recht wenig Handlungsdruck – die Situation in London oder Paris ist viel dramatischer als in deutschen Städten. Aber vielleicht ist das auch eine Chance für deutsche Unternehmen, mit mehr Zeit hochtechnologische Lösungen zu entwickeln.
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Gibt es eigentlich eine Gegenbewegung zur Beschleunigung, also einen Trend, langsamer und langfristiger geplant zu bestellen?

Meines Erachtens nicht im Endkundengeschäft. Die Kunden wollen immer schneller beliefert werden. Onlinegeschäfte sind häufig Impulskäufe, die kurzfristige Lieferungen verlangen. Zwar gibt es im B2B-Geschäft abgestufte Ausliefermodelle, aber häufig höre ich doch, wie wichtig die Themen Geschwindigkeit, Flexibilität und natürlich Kapitalbindung sind.
Aber wir reden viel über Städte, wir sollten auch über die „Entdichtung“ der Regionen reden. In ländlichen Regionen steht teilweise die Versorgung auf dem Spiel – für viele Unternehmen ist das Geschäft dort nicht mehr attraktiv. Bewohner müssen für eine Grundversorgung immer weitere Strecken zurücklegen. Hier müssen wir größer und solidarischer denken.

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