So selbstverständlich uns der Servomotor das Lenken eines Pkws erleichtert, so selbstverständlich wird man sich vielleicht in einigen Jahren Exoskelette umschnallen, um körperlich anstrengende Arbeiten zu verrichten. Besonders wenn es um das wiederholte Heben schwerer Lasten geht, bieten die Servomotoren des stützenden ‚Außenskeletts‘ echte Erleichterung. ‚Maloche 4.0‘ sozusagen: dank neuester Sensor- und Aktortechnik werden schwere Arbeiten viel leichter und rückenfreundlicher. Anwendungsszenarien in der Industrie und Lagerlogistik sind sehr vielversprechend und würden zu weniger krankheitsbedingten Ausfällen der Belegschaft führen, sowie zu einem angenehmeren und gesünderen Arbeitsalltag, gerade auch für ältere Mitarbeiter.
Exoskelette sind eine Art Roboteranzug, die die Körperbewegung registrieren und mit Servomotoren verstärken (so wie die Servolenkung den Lenkvorgang unterstützt). Gleichzeitig entlasten die mechanischen Gelenke und die Stützstruktur, ähnlich einer Orthese, die Gelenke und Knochen des Anwenders.
In Filmen werden Exoskelette gerne martialisch-futuristisch dargestellt. Dort verleihen sie dem Träger Superkräfte. Doch die realen Umsetzungen sind davon weit entfernt, dafür aber umso alltagstauglicher. Moderne Exoskelette stellt man sich besser als eine Servolenkung zum Anziehen vor als einen Roboter-Anzug, der Superkräfte verleiht.
Tatsächlich ist die Mensch-Maschine-Interaktion beim Tragen eines Exoskeletts sehr direkt, auf den ersten Blick vielen Menschen sogar zu direkt. Doch werden wir wirklich zu Cyborgs, nur weil wir uns ein Werkzeug umschnallen, anstatt uns in ein solches hineinzusetzen?
Haben Sie schon einmal einen Pkw ohne Servolenkung gesteuert? Wissen Sie überhaupt noch, wie sich das anfühlt? Jedes Einparkmanöver zerrt an der Armmuskulatur. Ein moderner Lkw ließe sich ohne die Unterstützung der Hilfsmotoren überhaupt nicht mehr rangieren. Ebenso verstärkt der Bremskraftverstärker die Bremstätigkeit des Fahrers. Wir alle pflegen mit unseren Autos seit Jahrzehnten allerengste Mensch-Maschine-Interaktion, die durch immer neue Assistenzsysteme (ABS, ESP etc.) weiter verstärkt wird und die wir bereitwillig eingehen. Oder kennen Sie einen Autofahrer, der freiwillig auf seine Servolenkung verzichten würde? Deswegen ist er aber noch lange kein Cyborg.
Obwohl der Vergleich mit der Servolenkung entzaubert, ermöglichen Exoskelette bereits seit Jahren Großartiges, besonders im medizinischen Bereich: Claire Lomas, seit einem Reitunfall querschnittsgelähmt, absolvierte mithilfe eines Exoskeletts 2012 den London Marathon in 27 Tagen. Im Sommer 2018 schaffte diese Leistung Simon Kindleysides sogar in 36 Stunden. Exoskelette für Querschnittsgelähmte sind mittlerweile so ausgereift, dass seit Sommer 2018 das erste Exoskelett in das Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbands aufgenommen wurde.
Exoskelette bei DB Schenker
Wie kann man sich nun den Einsatz in der Industrie und Logistik vorstellen? Gerade am Packarbeitsplatz oder Fließband muss oft längere Zeit leicht vornübergebeugt gearbeitet werden, was die Lendenwirbel auf Dauer sehr stark belastet. Noch mehr in den Rücken geht das Herausheben von Lasten aus deren Verpackung oder auch die Entnahme von Waren von Bodenplätzen im Kommissionierbereich. Während allgemeine Hebetätigkeiten einfach an Maschinen wie Gabelstapler oder Roboter delegiert werden können, ist das Herausheben ein immer noch zu komplexer Vorgang für die Steuerungstechnik der Maschinen. Ein Exoskelett verbindet da die Kraft der Maschine mit der motorischen Kompetenz des Menschen.
Bei Anwendungen im Arbeitsalltag konzentrieren sich Hersteller von Exoskeletten derzeit bevorzugt auf die Entlastung der Lendenwirbel, deren Überbeanspruchung quasi eine Volkskrankheit ist. Sie werden besonders häufig in Mitleidenschaft gezogen und führen zu vielen Krankheitstagen und Frühverrentungen. Die Unterstützung anderer Körperregionen durch Exoskelette ist zwar ebenso denkbar, aber einerseits konstruktiv aufwändiger und andererseits bieten sich dafür nicht so viele Einsatzszenarien.
Auch DB Schenker interessiert sich für Anwendungen von Exoskeletten, wie Gerald Müller Vice President Process and Efficiency Management bei DB Schenker, berichtet:
„Wir haben bereits an mehreren DB Schenker-Standorten den Einsatz von Exoskeletten in Pilotprozessen getestet. Sie sollen es unseren Mitarbeitern ermöglichen, körperlich anstrengende Hebe-Arbeiten gesundheitsschonender und mit geringerer Ermüdung durchzuführen. Zudem beschäftigt sich die diesjährige Live Case Study der PhD School of Logistics 2019 des Fraunhofer IML mit dem Einsatz von Exoskeletten und deren Evaluierung mittels Leitmerkmalmethode. Ich bin gespannt, welche Ergebnisse uns die Doktoranden dieses Jahr präsentieren können. Das Format der Live Case Study war die beiden vorherigen Jahre sehr erfolgreich.“
Industrie 4.0 in Reinform
Bisher galt Japan immer als führende Roboter-Nation, auch was die Entwicklung von Exoskeletten angeht. Doch einer der derzeit weltweit führenden Hersteller von aktiven Exoskeletten ist das Augsburger Unternehmen German Bionic. Sein Modell Cray X wurde bereits 2018 im Wettbewerb „Land der Ideen“ ausgezeichnet, der von Bundesregierung und BDI ausgerichtet wird. Aktuell hat das Unternehmen den Deutschen Gründerpreis 2019 in der Kategorie ‚Start Up‘ gewonnen. Das aktive Exoskelett unterstützt den Bereich der Lendenwirbel, dabei ist es in seiner neuesten Version digital integrierbar und sogar selbstlernend.
Auf der Hannover Messe 2019 wurde das marktreife Cray X von German Bionic vorgestellt. In seiner aktuellen Gerätegeneration ist es voll integrierbar in Industrie 4.0-Prozesse. Seine Daten überträgt es in nahezu Echtzeit auf die dazugehörige Plattform German Bionic IO. Es erkennt die persönlichen Hebe-Profile seiner Nutzer wieder, und soll sich mittels Machine Learning immer besser an das individuelle Nutzungsverhalten der Träger anpassen. Außerdem soll es auch Empfehlungen und Tipps geben können, wie der persönliche Hebevorgang gesünder ausgeführt werden kann.
In Japan unterstützen derweil Exoskelette Senioren im Alltag. Und das Hybrid Assistive Limb von Cyberdyne gilt als das erste Exoskelett der Welt, das direkt durch Nervensignale anstatt durch Muskelsignale gesteuert wird. Die Zukunft der Exoskelette scheint gerade erst begonnen zu haben.
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Dr. Frieder Schwitzgebel studierte Philosophie und Physik an den Universitäten Mainz und Dijon und arbeitet seit 1996 als Unternehmensjournalist. Er ist Dozent für Wirtschaftsphilosophie an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Wiesbaden. Seine Schwerpunkte sind Neue Technologien, Kontraktlogistik und die Plattformökonomie.