Effizienz und Leistungsfähigkeit: Diese beiden Merkmale beschreiben ideale Lieferketten für Industrie und Handel. Sie sorgen dafür, dass die Globalisierung funktioniert. Umso erstaunlicher, dass die ganze Welt Anfang des Jahres für ein paar Tage komplett pausiert. Der Grund dafür ist das chinesische Neujahrs- oder Frühlingsfest: Die Werkhallen der industriellen Welt stehen für ein paar Tage still.
Zwei große Urlaubsperioden kennen Arbeitnehmer in China: Am Nationalfeiertag, dem 1. Oktober, beginnt die „Goldene Woche“. Zeit zu reisen und die Welt zu entdecken. Anders beim Neujahrs- oder Frühlingsfest: Es beginnt mit dem Neujahrstag und endet erst am darauffolgenden Vollmond zwei Wochen später. Zwar hat China 1911 den westlichen gregorianischen Kalender übernommen – doch an der traditionellen chinesischen Zeitrechnung nach dem Lunisolarkalender, der Sonne und Mond einbezieht, hält das Land bis heute fest. Das Neujahrs- oder Frühlingsfest ist das wichtigste Fest in China.
Das Frühlingsfest ist emotional wichtig
Während westliche Feiertage wie Weihnachten oder Neujahr heute vor allem von städtischen Eliten begangen werden, bleibt das chinesische Neujahrsfest für die Chinesen ein Familienfest mit großer emotionaler Bedeutung. „Das Fest gibt es in China seit mehr als zwei Jahrtausenden“, erläutert Barend ter Haar, Sinologe an der Hamburger Universität. „Alle Menschen versuchen, für dieses Fest irgendwie zu ihrer Familie in ihre Heimatregion zu kommen.“ China ist tief in traditionellen Strukturen verwurzelt. „Die familiären Bindungen sind sehr stark – und daran ändert auch die Modernisierung nichts“, erläutert ter Haar. Diese engen Bindungen sorgen dafür, die Nebenwirkungen der sozialen Modernisierung abzufedern. Zum Beispiel, indem Kinder verpflichtet werden, sich um ihre alten Eltern zu kümmern.
Größte Völkerwanderung der Welt
Das neue Jahr beginnt immer am zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende: In diesem Jahr fiel Neujahr auf den 12. Februar 2021. Dann begann das Jahr des Büffels. Der Drang zum Familientreffen verändert das ganze Land – das Neujahrsfest gilt als größte Völkerwanderung der Welt – auch in diesem Jahr. Trotz der Covid-19-Pandemie geht die Regierung von 1,7 Milliarden Reisen aus, die in der gesamten Frühlingsfestzeit stattfinden. Wobei darin natürlich Hin- und Rückreisen enthalten sind, denn das Land zählt ja nur 1,44 Milliarden Einwohner. Allein die chinesische Staatsbahn rechnet mit 296 Millionen Bahnreisenden – rund ein Drittel weniger als vor zwei Jahren.
Strenge Hygienevorschriften und Quarantäne-Auflagen sollen die Reiseflut so weit wie möglich eindämmen. Doch auch das hält viele Menschen nicht davon ab, sich auf die oft beschwerliche und lange Reise zu machen. „Teilweise haben die Menschen Jahre gespart, um tausende Kilometer zu ihrer Familie zurücklegen zu können“, sagt ter Haar.
Die meisten Fabriken schließen
Das Fest hat noch andere Auswirkungen. Weil die meisten Fabriken und Produktionsstätten für den Zeitraum schließen, wird die industrielle Fertigung teils schon eine Woche vor dem Fest heruntergefahren. Einige Fabriken nehmen den Betrieb erst einen Monat später wieder auf oder fahren sehr langsam bis zur früheren Leistung hoch. Das wirkt sich auf Produktion in vielen Ländern der Erde aus, wenn dort Zuliefererteile aus China verarbeitet werden oder Montageprozesse in China stattfinden. Zudem wird das Neujahrsfest auch in anderen asiatischen Staaten gefeiert, wenn auch längst nicht in gleichem Ausmaß.
Vorausschauende Planung für ausreichende Kapazitäten
Für Unternehmen in anderen Ländern, die auf Zulieferungen oder Waren aus China angewiesen sind, bedeutet das ein hoher Planungsaufwand einige Wochen vorab. Auch die Logistikdienstleister werden aktiv, um durch Vorausbuchungen Lieferspitzen abzufedern. „Wir haben mit vielen unserer Kunden schon recht früh über ihre Lieferketten gesprochen und anstehende Transporte geplant. So konnten wir auch in diesen turbulenten Zeiten ausreichende Kapazitäten sichern und den Großteil der Waren trotz der Corona-bedingten Herausforderungen rechtzeitig zu Verschiffung bringen“, sagt Alexander Naumann, Executive Vice President Ocean Freight, Cluster DE/CH von DB Schenker.
Auch in diesem Jahr erleben die Seehäfen einen großen Ansturm in den Wochen vor dem chinesischen Neujahr. Chinas Exporte sind nach der Covid-Pandemie wieder in die Höhe geschnellt, weltweit ist die Industrie wieder angesprungen. Und die Händler in Europa und den USA haben neue Ware für das Ostergeschäft und die Sommer-Saison geordert. Doch Neujahr kennt keine Ausnahme: für ein paar Tage pausiert die Welt.
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Axel Novak ist freier Journalist in Berlin. Seit mehr als einem Jahrzehnt beschäftigt er sich mit der Logistik-Branche und den Veränderungen, denen sie unterworfen ist. Axel Novak schreibt für Zeitungen, für Zeitschriften und für Unternehmen. Seine Schwerpunkte sind allgemeine Wirtschaftsthemen mit dem Fokus auf Mobilität, IT, Energie und Finanzen.